24.05.2024

Erhalt von Flexibilität und Mobilität

v.l.n.r. Dr. Stefanie Glaubitz, Dr. Stefanie Meyer, Dr. Rachel Zeng, PD Dr. Jana Zschüntzsch
v.l.n.r. Dr. Stefanie Glaubitz, Dr. Stefanie Meyer, Dr. Rachel Zeng und PD Dr. Jana Zschüntzsch

Vorab möchten wir unbedingt darauf hinweisen, dass die Interviewantworten nicht als medizinische Behandlungsempfehlungen dienen. Individuelle Bedürfnisse sollten unbedingt mit dem jeweils behandelnden therapeutischen und ärztlichen Fachpersonal evaluiert werden.

Könnten Sie sich unseren Lesern kurz vorstellen?
Mein Name ist Stefanie Meyer, seit 2018 arbeite ich als Assistenzärztin in der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). Hier bin ich auch Teil der wissenschaftlichen Forschungsgruppe „Neuromuskuläre Erkrankungen“ unter der Leitung von PD Dr. med. Jana Zschüntzsch sowie der durch die DGM zertifizierten Spezialambulanz für Neuromuskuläre Erkrankungen und des Neuromuskulären Zentrums der UMG.

Welchen beruflichen Bezug haben Sie zum Thema Sport mit Neuromuskulärer Erkrankung?
In unserer Spezialambulanz für Neuromuskuläre Erkrankungen, der neurologischen Tagesklinik aber auch in unserem stationären Behandlungsbereich an der UMG arbeiten wir täglich in der Versorgung von Betroffenen verschiedener Neuromuskulärer Erkrankungen. Neben der Durchführung spezialisierter Diagnostik sowie der Einstellung individuell angepasster medikamentöser Therapien, spielt im Leben unserer Patientinnen und Patienten selbstverständlich auch die Frage nach unterstützenden Behandlungen sowie Verhaltensstrategien im Alltag eine große Rolle. Besonders bei den Neuromuskulären Erkrankungen, welche je nach Schwere und Ausprägung mit einer deutlichen Einschränkung der körperlichen Mobilität einhergehen können, stellen Betroffene und Angehörige uns regelmäßig die Frage nach dem Umfang, der Art und den zu erwartenden Effekten körperlicher Aktivität und sportlicher Betätigung. Als Team der Neuromuskulären Spezialambulanz möchten wir hier in der Lage sein, Betroffenen wissenschaftlich fundierte und langfristig wirksame Empfehlungen an die Hand zu geben. Aufgrund der hohen Alltagsrelevanz hat insbesondere der Bereich der körperlichen Aktivität unser wissenschaftliches Interesse geweckt. Gemeinsam mit dem Institut für Sportwissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen begannen wir eine wissenschaftliche Erhebung zur Durchführung von Sport und körperlicher Aktivität bei Betroffenen von Neuromuskulären Erkrankungen. Ein Teil dieses Forschungsvorhabens, mit besonderem Fokus auf Betroffenen mit erblichen Muskelerkrankungen, wurde im Jahr 2022 mit dem 2. Preis des Ulrich-Brodeßer-FSHD-Forschungspreises der DGM ausgezeichnet, wofür wir sehr dankbar sind.

Gibt es medizinische Empfehlungen für sportliche Aktivitäten mit Neuromuskulärer Erkrankung?
Aufgrund der Vielfalt der verschiedenen Neuromuskulären Erkrankungen und der unterschiedlichen Ausprägung der Symptomatik selbst innerhalb der gleichen Erkrankungsgruppe, kann diese Frage nicht allgemeingültig beantworten werden. Entsprechend unserer Erfahrung kann sich selbst die Suche nach Empfehlungen für einzelne Erkrankungsbilder sehr schwierig gestalten. Grund dafür ist, dass zwar bereits eine Vielzahl an verschiedenen Studien zum Thema Sport und körperliche Betätigung bei Betroffenen mit Neuromuskulären Erkrankungen durchgeführt wurden, diese aber häufig aufgrund von sehr kleinen Fallzahlen und kurzen Beobachtungszeiträumen nur limitiert verwertbare und zum Teil widersprüchliche Ergebnisse liefern konnten.

Grundlegend kann man aber festhalten, dass Betroffene mit Neuromuskulären Erkrankungen körperliche Aktivitäten durchführen können und auch sollen. Die allgemeinen Vorteile von körperlicher Aktivität mit positiver Beeinflussung von Stimmung und Allgemeinbefinden sowie Erhalt und Verbesserung der Mobilität sowie Reduktion des kardiovaskulären Risikoprofils und Erhalt eines normalen Körpergewichts bestehen auch für Patienten mit Neuromuskulären Erkrankungen. Besonders wichtig ist unserer Ansicht nach die angeleitete Mobilisierung im Rahmen regelmäßiger und dauerhafter Physiotherapie bei therapeutischen Fachpersonen mit Erfahrung in der Betreuung Betroffener mit Neuromuskulären Erkrankungen. Sofern die therapeutischen Fachpersonen nicht mit den spezifischen methodischen Ansätzen von Neuromuskulären Erkrankungen vertraut sind, verweisen wir auf die Informationsmaterialien der DGM oder bieten ein Informationsgespräch mit den gut ausgebildeten Therapeuten der Klinik für Neurologie an. Ebenfalls sollte durch regelmäßige stationäre Rehabilitationsmaßnahmen in Kliniken mit Spezialisierung für die Erkrankungsbilder des Neuromuskulären Formenkreises die Mobilität gefördert werden. Vorteil ist, dass in solch einem angeleiteten Rahmen Bewegung sicher ausgeübt und das Erlernte idealerweise im Anschluss in den Alltag integriert werden kann.

Welche Art und Ausmaß der körperlichen Aktivität darüber hinaus für den Einzelnen möglich und förderlich ist, kann nur im individuellen Fall sicher beantwortet werden. Wichtig bleibt: körperliche Aktivität und Sport sollen Spaß machen, zur sozialen Integration beitragen und das Wohlbefinden fördern.

Sollte man bei der Auswahl der Sportart Besonderheiten beachten?
Während grundsätzlich die Durchführung von Sport und körperlicher Aktivität positiv zu bewerten ist, gibt es bei verschiedenen Erkrankungen durchaus Besonderheiten. Diese sollten bei der Auswahl der Sportart beachtet werden, um eine sichere Durchführung zu garantieren. Beispielsweise wird bei den Muskeldystrophien vom Typ Duchenne oder Typ Becker von Sportarten abgeraten, die starke Scherkräfte auf die Muskulatur ausüben, wie Trampolinspringen oder Schnellkrafttraining. Andere Sportarten wie bspw. Schwimmen werden hier generell als sicher eingestuft. Wir empfehlen daher eine individuelle Beratung, abhängig vom jeweiligen Erkrankungsbild. Auch bei der Auswahl von Sportarten, welche zum einen geeignet sind und zum anderen auch Spaß machen, kann die Physiotherapie, der Rehabilitationssport oder die stationäre Rehabilitationsbehandlung eine große Hilfestellung bieten. Wichtig ist auch, dass körperliche Aktivität mit Ausrichtung auf den Erhalt von Flexibilität und Mobilität wie regelmäßige Dehnungsübungen einen hohen Stellenwert gerade bei Betroffenen mit fortgeschrittener Muskelschwäche haben, um Kontrakturen zu vermeiden. Hier sei auch nochmal auf die Vielfalt von Stehtraining mit Hilfsmitteln wie einem Rollstuhl mit Stehfunktion oder einer hauseigenen Sprossenwand hingewiesen. Sport soll also keinesfalls immer die Ausschöpfung der maximalen Belastbarkeit bedeuten, vielmehr geht es um die Identifizierung von Übungen, die einen positiven Einfluss auf den Erkrankungsverlauf und das allgemeine Wohlbefinden haben.

Gibt es Sportarten die man mit Neuromuskulärer Erkrankung überhaupt nicht machen sollte?
Ein allgemeingültiges Verbot über alle Erkrankungen des Spektrums der Neuromuskulären Erkrankungen hinweg gibt es nicht. Natürlich gibt es Sportarten, von denen man bei bestimmten Erkrankungen abraten würde, wie das oben genannte Beispiel zu den Muskeldystrophien vom Typ Duchenne und Becker. Grundsätzlich gilt erstmal ganz einfach, nur Sportarten durchführen, die einem auch guttun. Wenn nach Ausübung einer bestimmten Sportart eine deutliche Beschwerdezunahme auftritt, ist diese im individuellen Fall möglicherweise nicht geeignet. Zusätzlich sollten Betroffenen bei Risikosportarten wie Tauchen, Klettern oder körperbetonten Teamsportarten gegebenenfalls auch das durch Verletzung auftretende Immobilisierungspotential im Hinterkopf behalten und eine individuelle Nutzen-Risiko-Analyse vornehmen. Auch im Rahmen unserer Studie zum Thema Sport bei Neuromuskulären Erkrankungen versuchen wir herauszufinden, ob es Sportarten gibt, von denen Betroffene besonders positiv oder eben besonders negativ berichten und ob sich hieraus Trends für bestimmte Erkrankungsbilder ableiten lassen, die es weiter zu verfolgen gilt.

Haben Sie eine Idee, wie man eine für sich passende Sportart finden könnte?
Natürlich stellen Erfahrungen mit verschiedenen Sportarten und Formen der körperlichen Aktivität im Therapiekontext, wie beispielsweise im Rahmen von stationärer Rehabilitation oder Physiotherapie einen sicheren Weg dar, Sportarten zu entdecken die zum einen für die individuelle Erkrankung geeignet sind, zum anderen aber natürlich auch Spaß und Freude bereiten. Ein anderer Weg ist, sich bei den lokalen Sportvereinen über inklusive Sportangebote zu informieren. In Göttingen wird zum Beispiel über ein inklusives Tischtennisturnier oder ein Rollstuhltraining auf die verschiedenen Angebote aufmerksam gemacht. Sofern in der eigenen Umgebung keine geeignete Sportart gefunden werden kann oder weiterhin Bedenken bestehen, etwas falsch zu machen oder gar die Symptomatik der Neuromuskulären Erkrankungen durch körperliche Aktivität zu verschlimmern, kann ein offenes Gespräch eine Hilfestellung sein. Wichtig ist aus unserer Sicht aber auch der Austausch mit anderen Betroffenen. Wir informieren hier beispielsweise unsere Patienten über die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit den entsprechenden Diagnosegruppen der DGM, in welchen über den persönlichen Austausch aber auch über Vorträge und Fortbildungsveranstaltungen viele Informationen gewonnen werden können.

Haben Sie ein Beispiel als Inspiration für eine sportliche Freizeitaktivität für Menschen mit Neuromuskulären Erkrankungen?
Auch hier gilt: Die eine sportliche Aktivität, die für alle Menschen mit Neuromuskulären Erkrankungen geeignet ist, gibt es nicht. Insbesondere durch den Kontakt mit unseren Patienten des Neuromuskulären Zentrums in Göttingen wissen wir aber, dass Menschen mit Neuromuskulären Erkrankungen vielfältigen sportlichen Freizeitaktivitäten nachgehen. Was wir besonders daraus gelernt haben: auch Betroffene mit fortgeschrittener Symptomatik und deutlichen Mobilitätseinschränkungen können aktiv werden. Während zum Beispiel Schwimmen oder Wassergymnastik für viele mit leichteren Muskelbeschwerden gute Alternativen für körperliche Aktivität darstellen, kann beispielswiese Sitzgymnastik oder das Training an einem Heimtrainer mit elektrischer Unterstützung auch bei Immobilität den Zugang zu Bewegung ermöglichen. Tanzen, Rudern im Team oder Hippotherapie können ebenfalls eine gute Kombination aus Spaß an der Bewegung und Gesundheitsaspekten darstellen. Auch Training in einem lokalen Verein mit Angeboten für Rollstuhlfahrende oder Sport am Rollator kann eine großartige Möglichkeit sein, in Bewegung und in Kontakt mit anderen Betroffenen zu kommen. Zuletzt können wir noch auf die Trainingseffekte für die Atemmuskulatur durch Singen hinweisen. Am Ende ist die geeignete Aktivität aber immer abhängig vom individuellen Erkrankungsbild.

Ein sportliches Schlusswort
Das Thema Sport und körperliche Betätigung bei Menschen mit Neuromuskulären Erkrankungen liegt uns als Team der Neuromuskulären Ambulanz der Universitätsmedizin Göttingen besonders am Herzen. Wir sind sehr dankbar für Ihr Interesse an diesem Themenbereich und die Unterstützung durch die DGM, denn nur in Zusammenarbeit mit den Betroffenen können wir unser Wissen über körperliche Aktivität bei Neuromuskulären Erkrankungen erweitern und so langfristig hoffentlich zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen. Sport und Bewegung haben nicht nur gesundheitliche Vorteile, sondern sind auch elementare Bestandteile unseres gesellschaftlichen Lebens und bringen Menschen zusammen. Daher lassen Sie uns gemeinsam aktiv werden und bleiben.