24.05.2024

Thesen zur optimalen Versorgung von Menschen mit seltenen neurologischen Erkrankungen

Zusammenfassung

Hintergrund

Im Jahr 2017 wurde die Deutsche Akademie für Seltene Neurologische Erkrankungen (DASNE) gegründet, um den Weg für ein optimiertes personalisiertes Management von Patienten mit seltenen neurologischen Erkrankungen (RND) in allen Altersgruppen zu ebnen. Seitdem hat sich ein dynamisches nationales Netzwerk für seltene neurologische Erkrankungen etabliert, das sich aus renommierten Experten der Neurologie, pädiatrischen Neurologie, (Neuro-)Genetik und Neuroradiologie zusammensetzt. DASNE hat erfolgreich Fallpräsentationen und multidisziplinäre Diskussionen sowohl auf jährlichen Symposien als auch auf monatlichen virtuellen Fallkonferenzen sowie weitere Fortbildungsaktivitäten durchgeführt, die ein breites Spektrum an interdisziplinärem Fachwissen im Zusammenhang mit RND abdecken. Hier stellen wir Empfehlungen für ein optimiertes personalisiertes Management von Patienten mit RND vor, die in einem strukturierten Delphi-Verfahren von einer Gruppe von Experten entwickelt und überprüft wurden.

Methoden

Eine interdisziplinäre Gruppe von 37 RND-Experten, die sich aus DASNE-Experten, Patientenvertretern sowie Fach- und Führungskräften des Gesundheitswesens zusammensetzte, war an dem Delphi-Verfahren beteiligt. Zunächst wurde eine Online-Sammlung von Themen durchgeführt, die von der Expertengruppe als relevant für eine optimale Patientenversorgung angesehen wurden. Anschließend wurde ein zweistufiges Delphi-Verfahren durchgeführt, um die Wichtigkeit der ausgewählten Themen zu bewerten. Kleine interdisziplinäre Arbeitsgruppen erarbeiteten dann Empfehlungen. In zwei Konsenssitzungen und einer Online-Überprüfungsrunde wurden diese Empfehlungen schließlich angenommen.

Ergebnisse

38 Stellungnahmen wurden angenommen und in elf Themenbereiche unterteilt: Struktur des Gesundheitswesens, neurologische Kernkompetenz und Kernaufgabe, interdisziplinäre Teamzusammensetzung, Diagnostik, kontinuierliche Pflege und Therapieentwicklung, Fallkonferenzen, Austausch/Kooperation zwischen Zentren für seltene Krankheiten und anderen Partnern im Gesundheitswesen, Patientenfürsprecher, Datenbanken, Übersetzung und Gesundheitspolitik.

Schlussfolgerungen

Dieses deutsche interdisziplinäre Delphi-Expertengremium hat in einem strukturierten Delphi-Prozess einvernehmliche Empfehlungen für eine optimale Versorgung von Patienten mit RND erarbeitet. Diese stellen eine Grundlage für weitere Entwicklungen und Anpassungen im Gesundheitssystem dar, um die Versorgung von Patienten mit RND und ihren Familien zu verbessern.

 

 

Interview mit Dr. Carola Reinhard sowie Dr. Holm Gräßner

Wie haben Sie die Struktur der sehr komplexen Thematik aufgebaut?

Reinhard/Graessner: Uns ging es in dieser in der Tat sehr komplexen Thematik darum, die Versorgung und die Versorgungsstruktur insgesamt zu erfassen. Dafür war es zum notwendig eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Expertinnen- und Expertengruppe zusammen zu stellen, die alle beteiligten Fachrichtungen und Berufsgruppen enthält. Zu dieser Gruppe habe Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter gehört. Dann wurden mittels eines Delphi-Prozesses in der gesamten Gruppe die Themen festgelegt, die für eine optimale Versorgung von Menschen mit seltenen neurologischen Erkrankungen wichtig sind. Für diese Themen haben kleinere interdisziplinäre Gruppen Thesen entwickelt, die dann von der gesamten Gruppe diskutiert und beschlossen worden sind.

Wie ist die Festlegung der Schwerpunktthemen (Arbeitsgruppen) entstanden?

Die Schwerpunktthemen haben wir mittels eines Delphieprozesses ermittelt. D.h. alle Expertinnen und Experten werden gebeten die zur Auswahl stehenden Themen zu scoren. Dieses Scoring wird mit Wissen des jeweiligen Gesamtergebnisses wiederholt, und zwar so lange bis sich ein Konsens abzeichnet.  Durch die interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammensetzung der Expertinnen- und Expertengruppe wird damit ein sehr guter Kompromiss gefunden.

Eine AG beschäftigt sich mit der Zusammensetzung des interdisziplinären Teams, dazu auch Thesen erarbeitet. Warum sehen Sie diesen Punkt als dringend erforderlich an?

Alle seltenen Erkrankungen, so auch die seltenen neurologischen Erkrankungen sind komplexe Erkrankungen, die eine Zusammenarbeit im interdisziplinären Team erfordert. Das gibt sowohl aus der Sicht der Pathogenese der Erkrankungen, aber noch vielmehr aus der Sicht der Sektoren-übergreifenden Versorgungsbedarfe und Versorgungserfahrungen der Menschen mit seltenen neurologischen Erkrankungen.

Darin adressieren Sie auch die personenzentrierte Ausrichtung des Versorgungsprozesses, konkret die Einbindung der Patientinnen als ihre Experten in der gemeinsamen Erarbeitung von Therapiewegen. Welche persönlichen Voraussetzungen brauchen Behandelnde und Patienten dafür?

Es bedarf einer Kompetenz der betroffenen Menschen über ihre Erkrankung und das Vermögen diese Kompetenz bei den Behandlungsentscheidungen auch kommunikativ einbringen zu können. Gleichsam sollten Ärztinnen und Ärzte in der Lage sein die Patientinnen in Behandlungsentscheidungen zu involvieren, methodisch und kommunikativ.

In Ihren Ergebnissen sind auch Verfahren und der Umgang mit dem differenzierten Gesundheitssystem beschrieben. Die DGM verfolgt das Ziel, Patientenlotsen koordinierend, wegweisend und unterstützend für Patienten und Behandler einzusetzen. Was sagen Ihre Thesen zu diesem konkreten Vorhaben?

Im zugegebenermaßen komplexen deutschen Gesundheitssystem sind Patientenlotsen für die individuelle Koordinierung der intersektoralen Versorgung von einzelnen Patientinnen und Patienten eine wichtige Voraussetzung, um eine optimale Versorgung zu erreichen. Es geht dabei um Navigationsunterstützung im System und auch ganz konkret zu individuellen Versorgungsangeboten. Da die Wege im Gesundheitssystem gerade für Menschen mit seltenen Erkrankungen wenig gebahnt sind und gerade sie einen ganzheitlichen Versorgungsansatz benötigen, sind Patientenlotsen als sozusagen „menschliches Navi“ unverzichtbar.

Dr. Carola Reinhard
Dr. Carola Reinhard, Mail: carola.reinhard@med.uni-tuebingen.de
Dr. Holm Gräßner
Dr. Holm Gräßner, Mail: holm.graessner@med.uni-tuebingen.de

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Institute of Medical Genetics and Applied Genomics
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